YouTube-Präzedenzfall bedroht Meinungsfreiheit

Youtube-App auf einem Smartphone © Photo by Szabo Viktor on Unsplash
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Am 16. Dezember 2020 kündigte YouTube an, einen lokalen Vertreter in der Türkei zu ernennen, um sich an das kürzlich geänderte Internetgesetz des Landes zu halten. Diese Entscheidung wird das Unternehmen sehr viel anfälliger machen für Anfragen durch die türkischen Behörden zur Entfernung oder Löschung von Inhalten, so ARTICLE 19, Human Rights Watch und İFÖD. Ein solcher Schritt wird unweigerlich zu einer Zunahme der willkürlichen Zensur führen. Er wird die Privatsphäre und das Recht der Menschen auf Zugang zu Informationen gefährden und YouTube in Menschenrechtsverletzungen verwickeln.

Die Entscheidung schafft zudem einen gefährlichen Präzedenzfall, der es anderen Tech-Unternehmen erschwert, sich ihrerseits gegen die Gründung einer lokalen Vertretung in der Türkei zu wehren. Zudem wird es schwieriger für YouTube und andere Unternehmen, sich zu weigern, lokale Vertreter in Ländern auf der ganzen Welt mit schwachen rechtsstaatlichen Strukturen und ebenso problematischer Gesetzgebung zu ernennen, wenn diese ähnliche Gesetze verabschieden. Anstatt sich aktiv an dieser Form der staatlichen Einmischung in die freie Meinungsäußerung zu beteiligen, sollte YouTube sich den Bemühungen anschließen, das Gesetz anzufechten und sich für die Meinungsfreiheit einsetzen.

„Die wichtigsten Social-Media-Unternehmen haben sich bislang zu Recht nicht an dieses drakonische Gesetz, das die Zensur erleichtert, gehalten“, sagte Hugh Williamson, Direktor für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „YouTubes Entscheidung, der Forderung nach einer lokalen Vertretung nachzukommen, in dem Glauben, dass es möglich sein wird, den Sturm auszusitzen und einer Flut von Anfragen zur Entfernung von Inhalten standzuhalten, ist ein schwerer Irrtum, der das beklagenswerte Klima für die Meinungsfreiheit in der Türkei ignoriert.“

Bei seiner Entscheidung hat YouTube wenig bis gar keine Rücksprache mit den wichtigsten zivilgesellschaftlichen Gruppen gehalten, die sich mit Fragen der Meinungsfreiheit in der Türkei befassen. In der entsprechenden Ankündigung hieß es jedoch, dass YouTube „weiterhin die Lebendigkeit und Offenheit der Plattform bewahren wird“ und dass die Ernennung eines lokalen Vertreters „weder die Art und Weise ändern wird, wie YouTube Anfragen zur Entfernung von Inhalten prüft, noch wie YouTube mit Nutzerdaten umgeht oder diese speichert“. Google verwies ARTICLE 19 und Human Rights Watch auf die offizielle Stellungnahme von YouTube.

Diese Ankündigung ist zutiefst enttäuschend und beunruhigend, da sie das Unverständnis des Unternehmens für die bestehenden Bedrohungen und Verletzungen der Meinungsfreiheit in der Türkei widerspiegelt und eine weitere Aushöhlung erleichtert, so die Organisationen. Kritische Meinungsäußerungen werden in der Türkei routinemäßig zensiert und der weitreichende Einfluss der Exekutive auf die Gerichte hat zur Folge, dass auch die Justiz die Meinungsfreiheit nur selten schützt.

Die Änderungen des türkischen Internetgesetzes vom Juli verpflichten Unternehmen dazu, einen lokalen Vertreter zu ernennen. Andernfalls drohen Werbeverbote und in der Folge eine reduzierte Reichweite der Plattformen, wodurch diese langfristig möglicherweise nutzlos werden. Die Ernennung eines Vertreters, wie im Gesetz vorgesehen, bringt jedoch die Verpflichtung mit sich, Online-Inhalte auf ungerechtfertigte und politisch motivierte Aufforderungen hin zu löschen.

Social-Media-Unternehmen sind sich der enormen Anzahl solcher Anfragen durchaus bewusst, welche die Türkei derzeit stellt und damit das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit verletzt. Nach Recherchen der İFÖD-Initiative EngelliWeb hat die Türkei bis Ende 2019 den Zugang zu 408.494 Websites, 130.000 URLs, 7.000 Twitter-Konten, 40.000 Tweets, 10.000 YouTube-Videos und 6.200 Facebook-Inhalten gesperrt. Aus diesem Grund kann die Türkei nicht als sichere Umgebung für die Nutzer und Mitarbeiter von YouTube betrachtet werden.

„Da es weder ordentliche Verfahren noch eine unabhängige Justiz gibt und es auch an funktionierenden demokratischen Institutionen wie etwa einem Verfassungsgericht fehlt, wird es für YouTube sowie für jede andere Social-Media-Plattform unmöglich sein, die Rechte der Nutzer in der Türkei zu schützen. Sie werden selbst zum verlängerten Arm des türkischen Staates“, sagte Yaman Akdeniz, einer der Gründer der türkischen Vereinigung für Meinungsfreiheit IFÖD.

ARTICLE 19 und Human Rights Watch sagten, dass die Gründung von lokalen Vertretungen Tech-Unternehmen in einigen anderen Ländern dabei helfen kann, sich in den verschiedenen Kontexten, in denen sie tätig sind, zurechtzufinden und sie besser zu verstehen. Dies hängt jedoch davon ab, ob es ein rechtliches Umfeld gibt, in dem es möglich ist, ungerechtfertigte Aufforderungen zur Entfernung oder Löschung von Inhalten vor unabhängigen Gerichten anzufechten.

Das schwache rechtsstaatliche Umfeld und die feindselige Umgebung in der Türkei bedeuten, dass es für YouTube und andere Unternehmen sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein wird, sich gegen unfaire Aufforderungen zur Entfernung von Inhalten oder Datenabfragen zu wehren. Sie werden nicht in der Lage sein, diese Anfragen erfolgreich vor Gericht anzufechten. Unternehmen, die sich dazu entschließen, sich in feindselige Umgebungen zu begeben, stellen fest, dass dies verheerende Auswirkungen haben kann und die Unternehmen selbst in Menschenrechtsverletzungen verwickelt werden können. Erkennbar ist dies beispielsweise am Beispiel von Facebook und Google in Vietnam.

Unternehmen wie YouTube haben eine Verantwortung, die Menschenrechte zu respektieren und Schaden zu begrenzen. So ist es in den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte festgelegt. Es ist schwierig, die Entscheidung von YouTube, eine lokale Vertretung zu gründen, mit dieser Verantwortung in Einklang zu bringen.

„Tech-Unternehmen sollten sich diesem Druck nicht beugen und keine Vereinbarungen hinter verschlossenen Türen mit den Behörden treffen“, sagte Sarah Clarke, Leiterin für Europa und Zentralasien bei ARTICLE 19. „Solange das Umfeld für freie Meinungsäußerung und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei so feindselig ist, sollten auch andere Social-Media-Plattformen sich nicht an die Änderungen des Internetgesetzes halten.“

ARTICLE 19, Human Rights Watch und İFÖD rufen YouTube daher zu Folgendem auf:

Überdenken Sie in Absprache mit der Zivilgesellschaft Ihre Entscheidung, einen lokalen Vertreter zu ernennen, angesichts des enormen Drucks, dem Sie wahrscheinlich von den türkischen Behörden ausgesetzt sein werden, Inhalte zu entfernen.

Klären Sie dringend, wie Ihr Unternehmen beabsichtigt, die Meinungsfreiheit und das Recht auf Privatsphäre in der Türkei zu respektieren.

Veröffentlichen Sie ein menschenrechtliches Impact Assessment bezüglich der Entscheidung, eine Vertretung in der Türkei zu gründen, an welche Anfragen zur Entfernung von Inhalten gerichtet werden können.

ARTICLE 19, Human Rights Watch und İFÖD fordern die türkische Regierung weiterhin auf, das neue Gesetz aufzuheben, das sich negativ auf Millionen Nutzer von sozialen Medienplattformen in der Türkei auswirken wird. Sie fordern zudem andere Tech-Unternehmen auf, darunter Facebook, Twitter, LinkedIn und TikTok, sich weiterhin gegen das Gesetz zu wehren, um die Meinungsfreiheit ihrer Nutzer in der Türkei zu schützen.

Quelle: Human Rights Watch